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Wie Trends funktionieren: am Beispiel Elektromobilität

Trends

Trends sind ebenso faszinierend wie tückisch – anspruchsvoll zu beurteilen. Wichtig ist, dass man alle möglichen Faktoren miteinbezieht. Sonst läuft man Gefahr, dass man Top als Flop beurteilt, oder umgekehrt. Anhand des Themas Elektromobilität wollen wir in diesem Beitrag etwas in die Tiefe gehen. 

Darum gehts

  • Entwicklungen hin zum Trend laufen selten linear. Was zählt, ist der Tipping Point, die Schwelle, wenn der Nischenmarkt zum Massenmarkt wird.

  • Meistens entscheiden mehrere Faktoren, wann es für den Tipping Point so weit ist.

  • Nebst all den gemessenen und durch Hochrechnungen errechneten Faktoren zählen auch rein emotionale, die schwerer zu beurteilen sind.

Gerade in unserer Branche spielen Trends eine wichtige Rolle. Aber was ist ein Trend? Sagen wir es so: Ein Trend ist eine angenommene Entwicklung in der Zukunft, die längerfristig und nachhaltig etwas bewirkt und verändert. Da wir aber keine Hellseher sind, müssen wir auf andere Instrumente setzen. Bei der Trendforschung beobachten wir auf der einen Seite Megatrends, langfristige Entwicklungen über mehrere Dekaden, die für alle Bereiche der Gesellschaft und Wirtschaft global eine prägende Wirkung haben. Ein typisches Beispiel dafür ist die Klimadiskussion. Anderseits gehören auch Veränderungen im Umfeld eines Unternehmens dazu. Zu diesem zählen seine Kunden, Anwender, Kunden der Kunden, Lieferanten, Verwaltung, angrenzende Unternehmen und Branchen.

Tipping Point: wenn der Nischen- zum Massenmarkt wird

In vielen Fällen zeigt es sich, dass Entwicklungen nicht linear ablaufen. Oft tun sie das zwar über lange Zeit. Aber plötzlich brechen sie ab, ändern die Richtung, beschleunigen sich stark, weil sich gewisse Umstände verändert haben. Diesen Moment bezeichnet die Wissenschaft als Tipping Point, auf Deutsch Kipp- oder Umschlagspunkt. Wie kommt es, dass sich manche Phänomene in der Gesellschaft durchsetzen – und andere nicht? Welche Faktoren zählen, damit ein Trend sich ausbreitet?

«Der Tipping Point ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Siedepunkt», erklärt Malcolm Gladwell in seinem Bestseller Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können1 und bringt auch gleich ein Beispiel, wie es zu einem solchen Punkt kommen kann: «Sharp produzierte das erste preiswerte Faxgerät im Jahr 1984 und verkaufte etwa 80’000 dieser Geräte im ersten Jahr. In den nächsten drei Jahren kauften Betriebe aller Art langsam und stetig Faxgeräte, bis 1987 so viele Leute ein Fax besaßen, dass es für jeden sinnvoll war, sich so ein Gerät anzuschaffen.» Daraus ergibt sich, dass es mehrere Faktoren braucht, damit eine Innovation skaliert, damit aus dem Nischen- ein Massenmarkt wird.

Was zählt, ist die Kundenerfahrung

In diesem Zusammenhang sprechen wir auch vom disruptiven Trend, von einem, der traditionelles Denken und Verhalten entwurzelt und verändert, die Art und Weise beeinflusst, wie wir Geschäfte machen und unseren täglichen Aktivitäten nachgehen. Heute geht es bei Disruption weniger um neue Erfindungen, sondern vielmehr um eine Veränderung der Kundenerfahrung.

Generell lässt sich das so ausdrücken: Ein Kunde entscheidet sich für eine neue Technologie, sobald

  • sie zum Beispiel sicherer, benutzerfreundlicher und bequemer ist oder seinen Status erhöht,
  • sie es ihm erlaubt, deutlich höherwertige Anwendungen und Angebote zu erarbeiten,
  • sich nach seiner Meinung das Preis-Leistungs-Verhältnis verbessert usw.

Entscheidende Faktoren im Bereich Elektromobilität

Hier ansatzmässig das Beispiel einer Kontextanalyse. Was spielt alles mit, damit der Tipping Point erreicht wird? Dafür müssen wir die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Nehmen wir als Beispiel die Elektromobilität, die für unsere Branche wesentlich ist. Hier ergeben sich mehrere Ansatzpunkte.

Gemäss der 2020 von Bain & Company veröffentlichten Studie Endspiel in der Automobilindustrie: Entscheidend ist der Tipping Point gilt das Jahr 2024 als Tipping Point für Elektromobilität.

Kundenakzeptanz: Diese wiederum hängt von mehreren Faktoren ab: Wie stark ist der Kunde motiviert, von sich aus einen Beitrag zur Erreichung von Klimazielen zu leisten? Wie und in welchem Mass fördert der Staat die Elektromobilität, zum Beispiel durch Zuschüsse beim Kauf, Reduktion von Steuern, Maut- und Parkgebühren, durch die Erlaubnis, Bus und Taxispuren zu benutzen?

Total Cost of Ownership (TCO): Wie schnell bietet sich dem Kunden die Möglichkeit, den heutigen Aufpreis für ein Elektrofahrzeug durch tiefere Betriebskosten während dessen Lebenszeit wettzumachen?

Ladeinfrastruktur: Wie lange geht es bis zur flächendeckenden Schnelllade-Infrastruktur, die es punkto Verfügbarkeit, Ladekomfort und Preistransparenz mit dem heutigen Tankvorgang konventioneller Autos aufnehmen kann?

Modellportfolio der Autohersteller: Der mögliche Käufer ist erst dann überzeugt, wenn ein genug grosses Angebot zur Verfügung steht, welches seine individuellen Bedürfnisse abdeckt.

Kaufpreisparität Batterieauto/Verbrenner: Nebst allen Überlegungen betreffend TCO spielt der Anschaffungspreis eine wesentliche Rolle. Wie schnell diese Parität erreicht wird, hängt von mehreren Faktoren ab, zum Beispiel vom Batteriepreis, der heute noch rund 30 % der Herstellungskosten eines Elektrofahrzeugs ausmacht, oder von staatlichen Zuschüssen.

Abenteuerliche Prognosen in der Vergangenheit

Wann kommt sie jetzt also so richtig, die Elektromobilität? Recherchiert man etwas gründlicher, kommt man im Rückblick auf unterschiedliche Ergebnisse mit eindeutigem Trend: Je neuer die Studie, desto weiter verschiebt sich der Durchbruch in die Zukunft. In ihrer 2010 veröffentlichten Analyse verhiess Bain & Company, dass bis 2020 weltweit die Hälfte aller neu zugelassenen Pkw mit einem Elektroantrieb ausgerüstet sei. 2013 identifizierte der Trendforscher Lars Thomsen sogar, dass 2016/2017 elektrische Pkws den Verbrennern den Rang ablaufen würden. 2017 setzte die Boston Consulting Group den Tipping Point auf 2025 fest und prognostizierte, dass bis 2030 der globale Marktanteil von Verbrennungsmotoren auf 50 % sinken würde.

Ende 2020: 43 % mehr Elektrofahrzeuge als im Vorjahr

Wer einen klaren Trend sucht, findet ihn im kürzlich erschienenen 101-seitigen Global EV Outlook 2021 der Internationalen Energie-Agentur (IEA). Trotz Corona-Pandemie beweist er eine starke Dynamik der Elektromobilität. Die Zulassungen von Fahrzeugen mit Elektroantrieb stiegen 2020 weltweit um 41 % – und dies trotz eines Rückgangs der globalen Verkaufszahlen von Fahrzeugen um 16 % im Vergleich zu 2019. Etwa 3 Millionen Elektrofahrzeuge wurden 2020 weltweit verkauft. Damit hat sich die Zahl an Elektrofahrzeugen auf den Strassen der Welt bis Ende 2020 auf rund 10 Millionen erhöht, ein Anstieg um 43 % gegenüber 2019, und erreicht damit 1 % des gesamten Fahrzeugbestandes.

Als Grund für diese Entwicklung nennt das IEA drei Faktoren:

  • Die regulatorischen Rahmenbedingungen: Verstärkung der Strategien bezüglich CO2-Emissionsstandards und Vorgaben zu Zero Emission Vehicles (ZEV). Ende 2020 verkündeten mehr als 20 Staaten Verbote des Verkaufs konventioneller Fahrzeuge oder die Vorgabe, dass Neuzulassungen nur noch für ZEV erfolgen sollen.
  • Schaffung zusätzlicher oder die Verlängerung bestehender Kaufanreize für Elektrofahrzeuge. Die Regierungen rund um die Welt verstärkten die Unterstützung für den Kauf entsprechender Modelle um 25 % gegenüber 2019 auf 14 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020. Dies geschah vor allem in Europa.

Vermehrtes Angebot an Elektrofahrzeug-Modellen und fortgesetzte Entwicklung bei der Senkung der Batteriekosten. Von den 20 weltweit grössten Herstellern kündigten 18 eine Ausweitung ihrer EV-Flotte an. Und vier grössere Lkw-Hersteller bekannten sich zu einer «all-electric future».

Emotionale Faktoren nicht vergessen

Automobilhersteller können direkt Einfluss darauf nehmen, wie sich der Trend zur Elektromobilität (weiter-)entwickelt. Dafür müssen sie sich fragen, was der mögliche Käufer auf der Suche nach dem Elektroauto wirklich will, und zwar nach unterschiedlichsten rationalen und emotionalen Faktoren. Verfolgt man die Social-Media-Diskussionen, spielen Umwelt, langfristige Kosten, Einsparungen und Reichweite der Batterie eine wesentliche Rolle.

Neues Potenzial findet sich bei der jungen und jung gebliebenen urbanen Smartphone-Generation. Diese zeigt eine starke Affinität zu innovativen Mobilitätskonzepten und wird mit ihrem Nachfrageverhalten den Wandel der Industrie vorantreiben. Eine Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman zur Zukunft der Mobilität kommt zum Ergebnis, dass es für Autohersteller wichtig ist, rasch zu handeln, um im Rennen um das optimale Mobilitätsangebot für diese Generation zu punkten.

Das Faszinierende an Trends, hier anhand der Elektromobilität aufgezeigt, ist die Vielfalt der Faktoren, die schliesslich darüber entscheiden, wie steil die Kurve nach dem Tipping-Point aufsteigt. Das gilt grundsätzlich bei der Studie jedes möglichen Trends und soll dazu motivieren, keinen dieser Faktoren unbeachtet zu lassen.

 

1 Malcolm Gladwell, Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können, 320 Seiten, Deutsch, Goldmann, 2016, ISBN 978-3-442-15895-9


Kontakt

Remo BaumgartnerMarktsegment-Management

Arbeitet seit 2016 für Komax – zu Beginn als Projektmanager im Bereich Automationsprojekte. Heute ist er verantwortlich für die Entwicklung des Marktsegments Automotive und neugierig, was die Zukunft der Automatisierung bringt.


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